Die zweite Etappe der Vuelta a España 2025 bot Dramatik und zugleich eine klare Bestätigung der Favoritenrolle von
Jonas Vingegaard. Der Däne, der zuvor mit fast seinem gesamten Team Visma | Lease a Bike in einen Massensturz verwickelt war, setzte sich im Bergaufsprint hauchdünn vor Giulio Ciccone durch. Auf den letzten Metern jubelte der dänische Meister selbstbewusst – das Zielfoto zeigte nur einen knappen Vorsprung.
Johan Bruyneel analysierte im The Move-Podcast: „Eigentlich ist der Vorsprung nicht so groß, aber beide wussten es. Ciccone wusste, dass er verloren hat, und Jonas wusste, dass er gewonnen hat.“
Der Sturz hätte Vingegaards Tag beinahe beendet. Blutüberströmt kämpfte er sich durch den Regen zurück ins Rennen. „Er gab einen Daumen nach oben, als er zur Kamera zurückkam. Ich dachte, das wäre ein Bluff, aber offensichtlich nicht“, erinnerte sich Analyst Spencer Martin. Als das Feld den entscheidenden Schlussanstieg erreichte, hatte sich Visma bereits neu formiert und seinen Kapitän perfekt positioniert. Vier Kilometer vor dem Ziel lauerte Vingegaard an zweiter Stelle, ehe er im Finale an Ciccone vorbeizog und sich sowohl den Etappensieg als auch das Rote Trikot sicherte.
Bruyneel zeigte sich überrascht, dass die Spitzengruppe so groß blieb – doch das Ergebnis war für ihn logisch: „Vor einem Monat war Jonas der einzige, der Pogacar in der Tour de France folgen konnte. Vergleicht man diesen Jonas mit dem Feld hier, ist es klar, dass er gewinnt.“ Die Etappe bestätigte nicht nur Vingegaards Stärke, sondern auch die Unberechenbarkeit einer Grand Tour. Leidtragender des Sturzes war Axel Zingle, der sich die Schulter auskugelte, sie zweimal wieder einrenkte und dennoch zur Aufgabe gezwungen war. Zu allem Überfluss verschwand laut Bruyneel auch noch sein Rad, das er einem Zuschauer zur Aufbewahrung übergab: „Nur in Italien.“
Neben Vingegaards Machtdemonstration brachte der Tag weitere Erkenntnisse. Egan Bernal, den viele bereits abgeschrieben hatten, erreichte die Spitzengruppe und bewies neue Lebenszeichen. „Für Bernal ist das ein tolles Ergebnis, zumindest für seine Moral“, betonte Bruyneel. Auch David Gaudu überraschte positiv: „Er sieht so abgemagert aus. Sein Gesicht wirkt wie ein Messer – schärfer als je zuvor.“ Weniger überzeugend präsentierte sich dagegen UAE Team Emirates. Ohne Pogacar wirkte die Mannschaft zerfahren. „Almeida und Ayuso waren frei, nie in guter Position, und verlieren zwölf Sekunden auf Jonas. Nicht wirklich das, was man sich wünscht“, kritisierte Martin. Bruyneel relativierte den Schaden, sprach aber von einer „mentalen Schwäche“.
Ciccones zweiter Platz entfachte eine Diskussion über seine Ambitionen. „Ich glaube nicht, dass Ciccone auf dem Podium landet“, sagte Bruyneel. „Er hat noch nie eine Grand Tour in den Top Ten beendet. Er jagt Etappensiege.“ Martin stimmte zu und lobte zwar Ciccones Aggressivität, wies aber darauf hin, dass Vingegaard schlicht zu stark sei.
Auch Tom Pidcock geriet ins Blickfeld. Der Brite und sein Team Q36.5 Pro Cycling investierten viel Arbeit, am Ende blieb Rang zehn. Bruyneel stellte seine langfristigen Chancen infrage: „Ein Podium wäre eine große Überraschung. Pidcock ist ein Gewinner, aber ich glaube nicht, dass er die Aufmerksamkeit für drei Wochen hat.“ Martin ergänzte, dass der Druck wohl eher vom Team komme als von Pidcock selbst: „Es wirkt, als sei das mehr Q36.5s Plan als seiner.“
In der Gesamtwertung setzte sich Vingegaard erwartungsgemäß an die Spitze. Doch die Favoriten blieben in Schlagdistanz: Almeida, Ayuso, O’Connor, Hindley und Jorgenson verloren nur Sekunden. „Die Reihenfolge der Favoriten wurde respektiert“, fasste Bruyneel zusammen.
Mit Blick auf die dritte Etappe erwarten die Experten einen Sprint. Bruyneel tippt auf Jasper Philipsen, Martin sieht Mads Pedersen in der Favoritenrolle: „Wenn Mads hier ist, um solche Etappen zu gewinnen, wissen wir, dass er in Form ist.“
Am Ende bleibt die zweite Etappe weniger wegen des knappen Vorsprungs in Erinnerung als wegen der klaren Erkenntnisse. Vingegaard ist in der Verfassung, die Vuelta zu dominieren. Bernal und Gaudu wirken belebt, UAE ohne Pogacar orientierungslos – und Pidcocks Weg in Richtung Gesamtwertung bleibt fraglich. Oder wie Bruyneel es formulierte: „Jonas ist der zweitbeste Etappenfahrer der Welt. Niemand sollte vom heutigen Ergebnis überrascht sein.“