„Europäische Teams zeigen Interesse an chinesischen Fahrern“ – Ex-China-Glory-Direktor sieht den Durchbruch nah

Radsport
Freitag, 14 November 2025 um 10:00
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China hat rund 1,4 Milliarden Einwohner – etwa 700-mal so viele wie Slowenien. Und dennoch stehen 2025 acht Slowenen, aber nur ein einziger Chinese im Aufgebot der WorldTour. Rein statistisch müsste das Land mehrere Radprofis hervorbringen, die das Niveau einer Grand Tour erreichen. Doch der letzte chinesische Starter bei einer dreiwöchigen Rundfahrt liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück – und die kurzfristigen Perspektiven sind kaum besser.
Ist es nicht bemerkenswert, dass ein Land dieser Größe keinen einzigen Star im Straßenradsport hervorgebracht hat? Domestique sprach darüber mit Lionel Marie, Manager von China Anta – Mentech. Nach vier Saisons beim chinesischen Continental-Team wird er 2026 zu UAE Team ADQ wechseln.
„Natürlich gibt es irgendwo jemanden, der stark genug wäre, um die Tour zu fahren – aber wir wissen nicht, wo er steckt“, sagt Marie mit einem Lächeln. „Wir müssen diese Talente erst finden. Und genau das ist das Problem: Wo sind sie? Kommt schon, Jungs, zeigt euch …“
Zu den größten Hindernissen im chinesischen Radsport zählt neben der Konkurrenz vieler anderer Sportarten vor allem die fehlende Nachwuchsstruktur. Die Talentförderung ist stark lokalisiert und wird vollständig von den Provinzen gesteuert – ein fragmentiertes System ohne übergeordnete Linie. „Wenn der Verband irgendwann die volle Unterstützung der Regierung erhält, ist alles möglich“, sagt Marie. „Das Potenzial ist definitiv da.“

Drei Schritte zurück wegen der Nationalspiele

Maries Team arbeitet seit seiner Gründung im Jahr 2022 von der Türkei aus und bringt vielversprechende chinesische Fahrer für kleinere europäische Rennen nach vorne. Doch 2025 blieben ausgerechnet die beiden größten Talente – Kletterer Xianjing Lyu und Sprinter Binyan Ma, beide mit Siegen in der Türkei – komplett in Asien. Nicht etwa, weil sie ihre Karriere beendet hätten. Ihre jeweiligen Provinzverbände in Yunnan und Guangdong stellten sie ausschließlich für die Vorbereitung auf die Nationalspiele ab, ein alle vier Jahre ausgetragenes Großevent, das oft als „chinesische Olympische Spiele“ bezeichnet wird.
Lyu trat dort im Mountainbike an, einer in China besonders populären Disziplin, während Ma im Straßenrennen Vierter wurde. Für beide gilt: 2026 sollten sie wieder frei sein, um in Europa zu starten.
„Die Nationalspiele finden im Jahr nach den Olympischen Spielen statt, und es ist schlicht unmöglich, in dieser Phase alle besten Fahrer mitzunehmen“, erklärt Marie. „Die Provinzen bekämpfen sich die gesamte Saison über – sie wollen ihre besten Athleten für sich behalten. Das heißt, sie lassen die Jungs nicht zu uns gehen. Dieses Jahr war das extrem frustrierend.“
Die Prioritäten im chinesischen System seien eindeutig, sagt er: „Zuerst die Olympischen Spiele, dann die Nationalspiele.“ Das erschwert auch internationale Projekte. Für die Weltmeisterschaften in Ruanda sei ein gutes Ergebnis im Mixed-Staffelrennen das Ziel gewesen – doch die Auswahl war begrenzt.
„Ich musste einen Fahrer ins Team holen, der vor zwei Jahren aufgehört hatte. Er begann erst im Juni wieder zu trainieren, nachdem er bei den nationalen Meisterschaften angesprochen worden war“, berichtet Marie. „Es war alles andere als ideal, aber wir haben versucht, aus den Bedingungen das Beste zu machen.“

Erfolgreiche vier Jahre

Trotz aller strukturellen Hürden kann Marie auf spürbare Fortschritte in seiner Zeit bei China Anta verweisen. So wurde Xianjing Lyu im vergangenen Jahr in Paris der erste Chinese, der ein Olympisches Straßenrennen beendete, bevor er zu Beginn dieser Saison die Asienmeisterschaften in Thailand gewann.
„Letztes Jahr wollten wir zu den Olympischen Spielen, und dieses Jahr war unser Hauptziel der Asienmeistertitel – damit waren wir sehr zufrieden“, sagt Marie. Gleichzeitig weiß er, dass ein einziger Fahrer – mittlerweile 27 Jahre alt – phasenweise das gesamte sportliche Programm getragen hat. „Er wird langsam älter, aber Xianjing Lyu ist bislang der beste chinesische Fahrer.“
Die Hoffnung des Teams ist es nun, weitere Talente mit ähnlichem Potenzial zu finden und sie deutlich früher internationaler Konkurrenz auszusetzen. Beim chinesischen Nationalteam in Guangxi bestand die Auswahl aus sechs Fahrern unter 25 Jahren, darunter der erst 19-jährige Kletterer Rongqi Zhang.
Für die meisten war das Rennen vor heimischem Publikum ein Härtetest gegen WorldTour-Profis – und entsprechend häufig fanden sich chinesische Fahrer im Gruppetto wieder. Doch einer konnte ein Ausrufezeichen setzen: Haoyu Su, früher bei China Anta und mittlerweile für XDS Astana unterwegs, hinterließ im Rennen einen starken Eindruck.
Marie hofft nun, dass Su kein Einzelfall bleibt – und dass weitere chinesische Fahrer den Sprung nach Europa schaffen.
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Mentalitätswandel

„Wir haben ein paar Jungs mit großem Potenzial, und das Team verleiht dem chinesischen Radsport zunehmend Glaubwürdigkeit“, sagt Marie. „Es hilft enorm, wenn ehemalige Fahrer ins Provinzsystem zurückkehren. Sie können erklären, wie wir in Europa trainieren, und werden so beinahe zu Trainern.“
Doch trotz erster Fortschritte bleibt der Weg ein langer. „China ist riesig, und die Provinzen haben großen Einfluss. Deshalb müssen wir sehr behutsam vorgehen, wenn wir Coaching und Trainingsmethoden verbessern wollen“, erklärt er. Ein Beispiel verdeutlicht das Problem: „In der Provinz Yunnan haben sie eine überdachte Bahn von einem Kilometer Länge gebaut – und darauf fahren sie 200-km-Einheiten. Stellt euch das vor: 200 Runden! Da werden die Jungs verrückt … Aber unsere Fahrer werden allmählich stärker, und auch das Personal macht Fortschritte.“
„Es ist eine völlig andere Kultur als in Europa“, betont Marie. „Aber die Tatsache, dass fast alle Fahrräder in China gebaut werden, führt dazu, dass jetzt viele Teams Sponsoren im Land suchen.“ Und dieses Marktinteresse zeigt Wirkung: „Wir bekommen jede Menge Anfragen – ‚Könnt ihr uns helfen, einen chinesischen Fahrer zu finden?‘ Wenn es in Europa Interesse gibt, chinesische Athleten einzubinden, dann ist das ein guter Weg, um eines Tages vielleicht tatsächlich einen chinesischen Fahrer bei der Tour de France zu sehen …“
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