Die Wissenschaft des Kletterns – Was den besten Bergfahrer ausmacht

Radsport
durch Nic Gayer
Dienstag, 02 September 2025 um 21:00
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Kaum eine Disziplin im Straßenradsport übt so große Faszination aus wie das Klettern. Der Anblick, wie sich Profis im Wiegetritt über steile Alpenpässe, Pyrenäengipfel oder Vulkankrater auf Inselstraßen kämpfen, zieht Fans seit Jahrzehnten in den Bann. Dabei ist der Berg nicht nur eine physische Herausforderung, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus Physiologie, Technik, Materialwahl, Rennintelligenz und mentaler Stärke. Um zu verstehen, was einen Weltklasse-Bergfahrer ausmacht, muss man tief in die wissenschaftlichen Grundlagen eintauchen – von Leistungsphysiologie und Biomechanik über aerodynamische Details bis hin zu psychologischen Faktoren.

Die physiologische Grundlage: Watt pro Kilogramm

Die wichtigste Kennzahl für die Kletterfähigkeit ist das Verhältnis aus Leistung und Körpergewicht, ausgedrückt in Watt pro Kilogramm (W/kg). Während ein Zeitfahrer im Flachen seine absolute Leistung maximieren will, kommt es am Berg darauf an, möglichst viel Leistung pro Kilogramm Körpermasse zu erzeugen. Spitzenkletterer im Profibereich erreichen in langen Anstiegen von 30 bis 40 Minuten Dauer Werte um 6,0 bis 6,5 W/kg. Für kürzere, explosive Anstiege können sie kurzzeitig über 7 W/kg treten.
Das hat unmittelbare Konsequenzen für den Körperbau: Bergfahrer sind oft klein und extrem leicht, mit einer hohen relativen Leistungsfähigkeit. Bei einer Körpergröße von 1,70 Meter sind 58 Kilogramm Körpergewicht keine Seltenheit, und die Körperfettanteile liegen in Wettkampfphasen oft unter 8 Prozent. Diese Leichtgewichtigkeit reduziert die notwendige Leistung für jede Steigung und sorgt dafür, dass selbst kleinste Leistungsreserven den Unterschied zwischen Mitfahren und Abreißenlassen ausmachen können.
Ein Vergleich verdeutlicht den Effekt: Bei einem Anstieg mit 8 Prozent Steigung und 10 Kilometern Länge muss ein 60-Kilogramm-Fahrer bei 6,2 W/kg rund 372 Watt treten. Ein Fahrer mit gleichem Leistungsvermögen, aber 70 Kilogramm Gewicht, müsste 434 Watt leisten, um gleich schnell zu sein – ein Unterschied, der auf diesem Terrain kaum aufzuholen ist.

VO₂max – das Maß für den Motor

Neben dem Gewicht ist die maximale Sauerstoffaufnahme, die sogenannte VO₂max, ein entscheidender Faktor. Sie gibt an, wie viel Milliliter Sauerstoff der Körper pro Kilogramm Körpergewicht pro Minute aufnehmen und verwerten kann. Top-Bergfahrer bewegen sich hier in Bereichen von 80 bis 90 ml/kg/min, während ein durchschnittlicher, gut trainierter Amateur um die 60 ml/kg/min erreicht. Eine hohe VO₂max ist die Basis dafür, dass der Organismus auch bei maximaler Belastung ausreichend Sauerstoff zu den arbeitenden Muskeln transportieren kann.
Doch VO₂max allein reicht nicht aus. Entscheidend ist auch die Laktatschwelle – der Punkt, an dem die Laktatproduktion den Abbau übersteigt und sich im Blut ansammelt. Je höher die Leistung an dieser Schwelle, desto länger kann der Fahrer ein hohes Tempo halten, ohne zu „übersäuern“. Elite-Bergfahrer erreichen oft 85 bis 90 Prozent ihrer VO₂max-Leistung an der Schwelle, was in Kombination mit dem geringen Gewicht eine enorme Dauerbelastung ermöglicht.
Ein weiterer oft unterschätzter Wert ist die sogenannte Ökonomie, also die Effizienz, mit der ein Fahrer Sauerstoff in mechanische Leistung umsetzt. Zwei Fahrer mit gleicher VO₂max können unterschiedlich schnell klettern, wenn einer bei gleichem Sauerstoffverbrauch mehr Watt generieren kann. Hier kommen Technik, Trittfrequenz und muskuläre Anpassungen ins Spiel.

Kraftausdauer und Trittfrequenz

Klettern ist eine Form der Ausdauerarbeit, die jedoch eine spezielle Kraftausdauer erfordert. Anders als beim Fahren im Flachen, wo die Trittfrequenz meist höher ist, wählen viele Bergfahrer eine Kadenz zwischen 75 und 90 Umdrehungen pro Minute. Diese moderat hohen Frequenzen ermöglichen eine gleichmäßige Kraftentfaltung, reduzieren Spitzenbelastungen in den Gelenken und verlangsamen die muskuläre Ermüdung.
Biomechanische Studien zeigen, dass bei einer leicht höheren Trittfrequenz die Belastung auf die großen Muskelgruppen gleichmäßiger verteilt wird. Bergfahrer nutzen dies gezielt, um die Ermüdung einzelner Muskelpartien hinauszuzögern. Der Wechsel zwischen Sitzen und Wiegetritt kann ebenfalls taktisch eingesetzt werden – Stehen entlastet bestimmte Muskelgruppen und erlaubt eine höhere kurzfristige Leistung, verbraucht aber mehr Energie.
Die Muskulatur selbst ist bei Bergfahrern durch einen hohen Anteil an Typ-I-Muskelfasern geprägt – den sogenannten „Slow-Twitch“-Fasern. Sie sind spezialisiert auf oxidative Energiegewinnung und können über lange Zeiträume kontrahieren, ohne schnell zu ermüden. Der Anteil dieser Fasern liegt bei Spitzenkletterern oft bei über 70 Prozent. Trainingsprogramme für Kletterer kombinieren lange Intervalle knapp unterhalb der Schwelle mit gezielten Kraftausdauereinheiten, oft auch am Berg selbst, um genau diese Muskelfaserqualität zu fördern.

Sitzposition, Pedalierstil und biomechanische Feinheiten beim Klettern

Die Sitzposition eines Bergfahrers ist weit mehr als eine Komfortfrage – sie entscheidet über Effizienz, Kraftübertragung und aerodynamische Stabilität. Im Klettern wird der Sattel häufig leicht nach vorne verschoben, um die Hüftöffnung zu optimieren und die großen Oberschenkelmuskeln maximal einzusetzen. Eine etwas aufrechtere Oberkörperposition entlastet die Atemmuskulatur und erleichtert die Sauerstoffaufnahme, während der leicht nach vorne geneigte Beckenwinkel den Druck auf die Pedale verbessert. Die Kurbellänge spielt ebenfalls eine Rolle: Kürzere Kurbeln ermöglichen höhere Trittfrequenzen bei steilen Anstiegen und reduzieren die Belastung der Kniegelenke, während längere Kurbeln mehr Hebelwirkung bringen, allerdings bei sehr steilen Passagen hinderlich sein können.
Der Pedalierstil unterscheidet sich deutlich zwischen Sitzen und Wiegetritt. Im Sitzen ist die Kraftübertragung gleichmäßiger, mit einem Fokus auf der Abwärtsbewegung in der Druckphase und einer aktiven Entlastung in der Zugphase, um Energie zu sparen. Im Wiegetritt hingegen verschiebt sich der Körperschwerpunkt rhythmisch, wodurch kurzfristig deutlich höhere Leistungen möglich sind – allerdings auf Kosten eines höheren Energieverbrauchs. Die Cleat-Position, also der Sitz der Schuhplatten, wird bei Bergfahrern oft etwas weiter hinten gewählt, um den Druck auf die Wadenmuskulatur zu reduzieren und die Belastung auf die Oberschenkelmuskeln zu verlagern. Profis feilen hier an Millimetern, um das Zusammenspiel aus Muskeleinsatz, Gelenkwinkeln und Trittökonomie zu perfektionieren. Für Amateure lohnt es sich, diese Feinheiten gezielt zu testen, denn schon kleine Veränderungen können spürbare Verbesserungen am Berg bringen.

Energieversorgung und Ernährung

Ein Bergfahrer kann noch so gut trainiert sein – ohne eine optimale Energieversorgung wird er am entscheidenden Anstieg einbrechen. Die Glykogenspeicher in Muskeln und Leber sind begrenzt, und gerade lange Bergetappen zwingen den Körper zu einem kontinuierlichen Nachschub. Profis nehmen während solcher Etappen oft 60 bis 90 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde auf, verteilt auf Riegel, Gels und Getränke. Neuere Strategien setzen auf eine Mischung aus Glukose und Fruktose im Verhältnis 2:1, um die Aufnahmefähigkeit des Darms zu erhöhen und Magenprobleme zu vermeiden.
Neben der Makronährstoffversorgung spielt auch die Flüssigkeitsbilanz eine große Rolle. Schon ein Flüssigkeitsverlust von zwei Prozent des Körpergewichts kann die Leistungsfähigkeit signifikant senken. Bei Hitze in Hochgebirgen – etwa bei Pyrenäen-Etappen im Juli – ist das ein entscheidender Faktor. Elektrolytgetränke helfen, Natriumverluste durch Schweiß auszugleichen und Krämpfe zu vermeiden. Manche Teams setzen auf vorgekühlte Getränke oder Eiswesten in der Rennpause, um die Körperkerntemperatur zu senken.
Auch die Ernährung in der Trainingsphase ist spezifisch. Vor Schlüsselbergetappen werden oft kohlenhydratreiche Mahlzeiten gewählt, um die Speicher maximal zu füllen. In Trainingsblöcken wird gelegentlich auch „low carb“-Training eingesetzt, bei dem bewusst mit niedrigen Glykogenspeichern trainiert wird, um die Fettverbrennung zu verbessern.

Material und Technik: Jeder Watt zählt

Der Einfluss des Materials auf die Kletterleistung ist oft unterschätzt. Jedes Kilogramm weniger am Rad spart am Berg wertvolle Sekunden. Top-Bergfahrer nutzen Rennräder, die mit Pedalen, Flaschenhaltern und Powermeter knapp über dem UCI-Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm liegen. Rahmen aus hochwertigem Carbon, ultraleichte Laufräder und Tubeless-Reifen mit niedrigem Rollwiderstand sind Standard. Selbst bei der Wahl der Übersetzung wird optimiert: Kompaktkurbeln mit 50/34-Kettenblättern und 11-30 oder 11-32-Kassetten erlauben eine effiziente Kadenz auch an steilen Rampen.
Aerodynamik spielt am Berg eine geringere Rolle als im Flachen, doch sie ist keineswegs irrelevant. Bei langen, moderaten Anstiegen können aerodynamische Verbesserungen durchaus Sekunden bringen, vor allem in Phasen, in denen das Tempo hoch bleibt. Leichte Aerohelme und enganliegende Trikots sind daher auch im Hochgebirge Standard.
Moderne Powermeter liefern in Echtzeit Daten, mit denen Fahrer und sportliche Leiter präzise Pacing-Strategien umsetzen können. Ergänzt wird dies durch GPS-Profile, die den genauen Verlauf eines Anstiegs anzeigen – inklusive Steigungsprozenten und bevorstehender Schlüsselpassagen.

Pacing-Strategie und Rennintelligenz

Klettern ist nicht nur eine Frage der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern auch der richtigen Tempogestaltung. Wer am Beginn eines langen Anstiegs überzieht, riskiert einen Leistungseinbruch in den letzten Kilometern. Profis orientieren sich oft an Wattwerten, die sie am Powermeter ablesen, um gleichmäßig nahe ihrer Schwellenleistung zu fahren. Gleichzeitig erfordert jede Rennsituation Flexibilität: Angriffe von Konkurrenten, Windverhältnisse oder Teamtaktik können erfordern, kurzzeitig deutlich über der Schwelle zu fahren.
Auch die Position im Feld vor einem Anstieg ist entscheidend. Wer weit hinten in den Anstieg geht, riskiert nicht nur Zeitverlust, sondern muss auch zusätzliche Energie aufwenden, um nach vorne zu kommen – eine Verschwendung wertvoller Reserven. Bei Bergetappen in Grand Tours ist daher oft ein hektisches Gerangel um die vorderen Positionen zu sehen, bevor es in den entscheidenden Pass geht.

Psychologische Komponenten

Die mentale Seite des Kletterns ist schwer messbar, aber entscheidend. Lange, steile Anstiege bringen Fahrer an ihre Grenzen. Schmerzen, Erschöpfung und das Wissen, dass der Berg noch Kilometer entfernt ist, erfordern eine enorme mentale Widerstandskraft. Spitzenkletterer entwickeln Strategien, um den Anstieg in Abschnitte zu unterteilen, sich auf Atmung und Technik zu konzentrieren und den Schmerz als Signal für Leistungsbereitschaft zu akzeptieren.
Visualisierungstechniken, Atemkontrolle und das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf positive Aspekte – etwa das Überholen eines Konkurrenten – helfen, die psychische Belastung zu reduzieren. Die besten Bergfahrer zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst unter maximaler Anstrengung noch taktische Entscheidungen treffen können.

Anpassung an Höhenlagen

Viele große Bergetappen führen über 2.000 Meter Höhe, was den Sauerstoffpartialdruck reduziert und die Leistungsfähigkeit einschränkt. Ab etwa 1.800 Metern ist ein spürbarer Leistungsrückgang messbar, der bei unakklimatisierten Fahrern deutlicher ausfällt. Profiteams bereiten sich darauf mit Höhentrainingslagern vor, oft in Regionen wie Sierra Nevada, Andorra oder den Dolomiten. Ziel ist eine vermehrte Bildung roter Blutkörperchen, um den Sauerstofftransport zu verbessern.
Manche Teams kombinieren Höhenlager mit Hypoxietraining in kontrollierten Räumen, um den Effekt gezielt zu dosieren. Entscheidend ist, dass die Anpassung individuell unterschiedlich verläuft – nicht jeder Fahrer reagiert gleich positiv auf große Höhen.

Trainingsmethoden für Bergfahrer im Jahresverlauf

Das Training eines Bergfahrers folgt einer klaren Periodisierung, die auf die Höhepunkte der Saison abgestimmt ist. Die Vorbereitungsphase im Winter legt den Grundstein mit langen Grundlageneinheiten bei moderater Intensität, häufig auf dem Rollentrainer oder bei warmem Wetter im Ausland. In dieser Zeit wird die aerobe Basis gestärkt, auf der später spezifische Intensitäten aufbauen. Ab dem späten Frühjahr verschiebt sich der Schwerpunkt auf kletterspezifische Intervalle: lange Belastungen knapp unterhalb der Schwelle für gleichmäßige Pässe, kürzere und intensivere Wiederholungen für steile Rampen. Diese Einheiten werden idealerweise am Berg selbst gefahren, um Technik, Pacing und mentale Gewöhnung zu schulen.
Vor wichtigen Rennen wie einer Grand Tour folgen drei- bis vierwöchige Vorbereitungsblöcke, in denen die Belastung gezielt gesteigert wird, gefolgt von einer Tapering-Phase zur Regeneration. Höhenaufenthalte werden strategisch platziert, um die Bildung roter Blutkörperchen zu fördern. Moderne Trainingsmethoden setzen dabei zunehmend auf Indoor-Simulationen mit Smarttrainern, die die Topografie echter Pässe nachbilden. So lassen sich Anstiege wie der Stelvio oder Tourmalet präzise in der heimischen Trainingsumgebung nachfahren. Powermeter und Herzfrequenzmessung sorgen dafür, dass jede Einheit optimal gesteuert wird. Selbst im Renneinsatz wird das Training fortgeführt – Ruhetage dienen nicht nur der Erholung, sondern auch der aktiven Anpassung mit lockeren Ausfahrten, um den Bewegungsapparat in Schwung zu halten. Durch diese systematische Herangehensweise erreichen Bergfahrer ihre Höchstform genau in dem Moment, wenn es im Rennen am meisten zählt.

Die Rolle des Teams

Auch wenn der Bergfahrer im Rampenlicht steht – ohne Teamunterstützung sind große Erfolge kaum möglich. Helfer sorgen dafür, dass der Kapitän frisch in den entscheidenden Anstieg kommt, indem sie ihn im Windschatten halten, Tempoarbeit leisten oder Flaschen reichen. Bei Grand Tours wie der Tour de France ist die Arbeit der Berghelfer oft mitentscheidend für den Gesamtsieg.
In taktisch geprägten Rennen kann ein Team auch bewusst hohes Tempo fahren, um Konkurrenten zu isolieren. Solche „Bergzüge“ funktionieren ähnlich wie Sprintzüge – nur dass hier nicht die Endgeschwindigkeit, sondern die Ausdauer gefragt ist.

Fazit

Der perfekte Bergfahrer ist das Resultat einer hochspezialisierten Kombination aus Physiologie, Technik, Taktik und mentaler Stärke. Jede einzelne Komponente – vom VO₂max-Wert über das Körpergewicht, die Ernährung, das Material bis hin zur psychischen Belastbarkeit – trägt dazu bei, ob ein Fahrer am Berg dominiert oder zurückfällt. In einer Ära, in der Leistungsdaten und wissenschaftliche Trainingsmethoden offenliegen, sind die Unterschiede oft marginal. Doch am Ende entscheiden diese kleinen Unterschiede über den größten Ruhm, den der Radsport zu vergeben hat: als Erster über die Passhöhe zu fahren.
Am Ende bleibt das Bergfahren eine der reinsten und zugleich anspruchsvollsten Disziplinen des Radsports. Es ist der Punkt, an dem sich reine Ausdauerathleten von wahren Kletterkünstlern unterscheiden – eine Mischung aus Physiologie, Technik und mentaler Härte. Wer diese Kunstform meistert, gewinnt nicht nur Rennen, sondern auch den Respekt der gesamten Radsportwelt. Der Blick vom Gipfel ist dann mehr als nur die Belohnung für harte Arbeit – er ist der Beweis, dass sich jede investierte Stunde im Sattel gelohnt hat.
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