Kaum eine Disziplin im Straßenradsport übt so große
Faszination aus wie das Klettern. Der Anblick, wie sich Profis im Wiegetritt
über steile Alpenpässe, Pyrenäengipfel oder Vulkankrater auf Inselstraßen
kämpfen, zieht Fans seit Jahrzehnten in den Bann. Dabei ist der Berg nicht nur
eine physische Herausforderung, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus
Physiologie, Technik, Materialwahl, Rennintelligenz und mentaler Stärke. Um zu
verstehen, was einen Weltklasse-Bergfahrer ausmacht, muss man tief in die wissenschaftlichen
Grundlagen eintauchen – von Leistungsphysiologie und Biomechanik über
aerodynamische Details bis hin zu psychologischen Faktoren.
Die physiologische Grundlage: Watt pro Kilogramm
Die wichtigste Kennzahl für die Kletterfähigkeit ist das
Verhältnis aus Leistung und Körpergewicht, ausgedrückt in Watt pro Kilogramm
(W/kg). Während ein Zeitfahrer im Flachen seine absolute Leistung maximieren
will, kommt es am Berg darauf an, möglichst viel Leistung pro Kilogramm
Körpermasse zu erzeugen. Spitzenkletterer im Profibereich erreichen in langen
Anstiegen von 30 bis 40 Minuten Dauer Werte um 6,0 bis 6,5 W/kg. Für kürzere,
explosive Anstiege können sie kurzzeitig über 7 W/kg treten.
Das hat unmittelbare Konsequenzen für den Körperbau:
Bergfahrer sind oft klein und extrem leicht, mit einer hohen relativen
Leistungsfähigkeit. Bei einer Körpergröße von 1,70 Meter sind 58 Kilogramm
Körpergewicht keine Seltenheit, und die Körperfettanteile liegen in
Wettkampfphasen oft unter 8 Prozent. Diese Leichtgewichtigkeit reduziert die
notwendige Leistung für jede Steigung und sorgt dafür, dass selbst kleinste
Leistungsreserven den Unterschied zwischen Mitfahren und Abreißenlassen
ausmachen können.
Ein Vergleich verdeutlicht den Effekt: Bei einem Anstieg
mit 8 Prozent Steigung und 10 Kilometern Länge muss ein 60-Kilogramm-Fahrer bei
6,2 W/kg rund 372 Watt treten. Ein Fahrer mit gleichem Leistungsvermögen, aber
70 Kilogramm Gewicht, müsste 434 Watt leisten, um gleich schnell zu sein – ein
Unterschied, der auf diesem Terrain kaum aufzuholen ist.
VO₂max – das Maß für den Motor
Neben dem Gewicht ist die maximale Sauerstoffaufnahme,
die sogenannte VO₂max, ein entscheidender Faktor. Sie gibt an, wie viel
Milliliter Sauerstoff der Körper pro Kilogramm Körpergewicht pro Minute
aufnehmen und verwerten kann. Top-Bergfahrer bewegen sich hier in Bereichen von
80 bis 90 ml/kg/min, während ein durchschnittlicher, gut trainierter Amateur um
die 60 ml/kg/min erreicht. Eine hohe VO₂max ist die Basis dafür, dass der
Organismus auch bei maximaler Belastung ausreichend Sauerstoff zu den arbeitenden
Muskeln transportieren kann.
Doch VO₂max allein reicht nicht aus. Entscheidend ist
auch die Laktatschwelle – der Punkt, an dem die Laktatproduktion den Abbau
übersteigt und sich im Blut ansammelt. Je höher die Leistung an dieser
Schwelle, desto länger kann der Fahrer ein hohes Tempo halten, ohne zu
„übersäuern“. Elite-Bergfahrer erreichen oft 85 bis 90 Prozent ihrer
VO₂max-Leistung an der Schwelle, was in Kombination mit dem geringen Gewicht
eine enorme Dauerbelastung ermöglicht.
Ein weiterer oft unterschätzter Wert ist die sogenannte
Ökonomie, also die Effizienz, mit der ein Fahrer Sauerstoff in mechanische
Leistung umsetzt. Zwei Fahrer mit gleicher VO₂max können unterschiedlich
schnell klettern, wenn einer bei gleichem Sauerstoffverbrauch mehr Watt
generieren kann. Hier kommen Technik, Trittfrequenz und muskuläre Anpassungen
ins Spiel.
Kraftausdauer und Trittfrequenz
Klettern ist eine Form der Ausdauerarbeit, die jedoch
eine spezielle Kraftausdauer erfordert. Anders als beim Fahren im Flachen, wo
die Trittfrequenz meist höher ist, wählen viele Bergfahrer eine Kadenz zwischen
75 und 90 Umdrehungen pro Minute. Diese moderat hohen Frequenzen ermöglichen
eine gleichmäßige Kraftentfaltung, reduzieren Spitzenbelastungen in den
Gelenken und verlangsamen die muskuläre Ermüdung.
Biomechanische Studien zeigen, dass bei einer leicht
höheren Trittfrequenz die Belastung auf die großen Muskelgruppen gleichmäßiger
verteilt wird. Bergfahrer nutzen dies gezielt, um die Ermüdung einzelner
Muskelpartien hinauszuzögern. Der Wechsel zwischen Sitzen und Wiegetritt kann
ebenfalls taktisch eingesetzt werden – Stehen entlastet bestimmte Muskelgruppen
und erlaubt eine höhere kurzfristige Leistung, verbraucht aber mehr Energie.
Die Muskulatur selbst ist bei Bergfahrern durch einen
hohen Anteil an Typ-I-Muskelfasern geprägt – den sogenannten
„Slow-Twitch“-Fasern. Sie sind spezialisiert auf oxidative Energiegewinnung und
können über lange Zeiträume kontrahieren, ohne schnell zu ermüden. Der Anteil
dieser Fasern liegt bei Spitzenkletterern oft bei über 70 Prozent.
Trainingsprogramme für Kletterer kombinieren lange Intervalle knapp unterhalb
der Schwelle mit gezielten Kraftausdauereinheiten, oft auch am Berg selbst, um
genau diese Muskelfaserqualität zu fördern.
Sitzposition, Pedalierstil und biomechanische
Feinheiten beim Klettern
Die Sitzposition eines Bergfahrers ist weit mehr als eine
Komfortfrage – sie entscheidet über Effizienz, Kraftübertragung und
aerodynamische Stabilität. Im Klettern wird der Sattel häufig leicht nach vorne
verschoben, um die Hüftöffnung zu optimieren und die großen Oberschenkelmuskeln
maximal einzusetzen. Eine etwas aufrechtere Oberkörperposition entlastet die
Atemmuskulatur und erleichtert die Sauerstoffaufnahme, während der leicht nach
vorne geneigte Beckenwinkel den Druck auf die Pedale verbessert. Die Kurbellänge
spielt ebenfalls eine Rolle: Kürzere Kurbeln ermöglichen höhere Trittfrequenzen
bei steilen Anstiegen und reduzieren die Belastung der Kniegelenke, während
längere Kurbeln mehr Hebelwirkung bringen, allerdings bei sehr steilen Passagen
hinderlich sein können.
Der Pedalierstil unterscheidet sich deutlich zwischen
Sitzen und Wiegetritt. Im Sitzen ist die Kraftübertragung gleichmäßiger, mit
einem Fokus auf der Abwärtsbewegung in der Druckphase und einer aktiven
Entlastung in der Zugphase, um Energie zu sparen. Im Wiegetritt hingegen
verschiebt sich der Körperschwerpunkt rhythmisch, wodurch kurzfristig deutlich
höhere Leistungen möglich sind – allerdings auf Kosten eines höheren
Energieverbrauchs. Die Cleat-Position, also der Sitz der Schuhplatten, wird bei
Bergfahrern oft etwas weiter hinten gewählt, um den Druck auf die
Wadenmuskulatur zu reduzieren und die Belastung auf die Oberschenkelmuskeln zu
verlagern. Profis feilen hier an Millimetern, um das Zusammenspiel aus
Muskeleinsatz, Gelenkwinkeln und Trittökonomie zu perfektionieren. Für Amateure
lohnt es sich, diese Feinheiten gezielt zu testen, denn schon kleine
Veränderungen können spürbare Verbesserungen am Berg bringen.
Energieversorgung und Ernährung
Ein Bergfahrer kann noch so gut trainiert sein – ohne
eine optimale Energieversorgung wird er am entscheidenden Anstieg einbrechen.
Die Glykogenspeicher in Muskeln und Leber sind begrenzt, und gerade lange
Bergetappen zwingen den Körper zu einem kontinuierlichen Nachschub. Profis
nehmen während solcher Etappen oft 60 bis 90 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde
auf, verteilt auf Riegel, Gels und Getränke. Neuere Strategien setzen auf eine
Mischung aus Glukose und Fruktose im Verhältnis 2:1, um die Aufnahmefähigkeit
des Darms zu erhöhen und Magenprobleme zu vermeiden.
Neben der Makronährstoffversorgung spielt auch die
Flüssigkeitsbilanz eine große Rolle. Schon ein Flüssigkeitsverlust von zwei
Prozent des Körpergewichts kann die Leistungsfähigkeit signifikant senken. Bei
Hitze in Hochgebirgen – etwa bei Pyrenäen-Etappen im Juli – ist das ein
entscheidender Faktor. Elektrolytgetränke helfen, Natriumverluste durch Schweiß
auszugleichen und Krämpfe zu vermeiden. Manche Teams setzen auf vorgekühlte
Getränke oder Eiswesten in der Rennpause, um die Körperkerntemperatur zu senken.
Auch die Ernährung in der Trainingsphase ist spezifisch.
Vor Schlüsselbergetappen werden oft kohlenhydratreiche Mahlzeiten gewählt, um
die Speicher maximal zu füllen. In Trainingsblöcken wird gelegentlich auch „low
carb“-Training eingesetzt, bei dem bewusst mit niedrigen Glykogenspeichern
trainiert wird, um die Fettverbrennung zu verbessern.
Material und Technik: Jeder Watt zählt
Der Einfluss des Materials auf die Kletterleistung ist
oft unterschätzt. Jedes Kilogramm weniger am Rad spart am Berg wertvolle
Sekunden. Top-Bergfahrer nutzen Rennräder, die mit Pedalen, Flaschenhaltern und
Powermeter knapp über dem UCI-Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm liegen. Rahmen
aus hochwertigem Carbon, ultraleichte Laufräder und Tubeless-Reifen mit
niedrigem Rollwiderstand sind Standard. Selbst bei der Wahl der Übersetzung
wird optimiert: Kompaktkurbeln mit 50/34-Kettenblättern und 11-30 oder 11-32-Kassetten
erlauben eine effiziente Kadenz auch an steilen Rampen.
Aerodynamik spielt am Berg eine geringere Rolle als im
Flachen, doch sie ist keineswegs irrelevant. Bei langen, moderaten Anstiegen
können aerodynamische Verbesserungen durchaus Sekunden bringen, vor allem in
Phasen, in denen das Tempo hoch bleibt. Leichte Aerohelme und enganliegende
Trikots sind daher auch im Hochgebirge Standard.
Moderne Powermeter liefern in Echtzeit Daten, mit denen
Fahrer und sportliche Leiter präzise Pacing-Strategien umsetzen können. Ergänzt
wird dies durch GPS-Profile, die den genauen Verlauf eines Anstiegs anzeigen –
inklusive Steigungsprozenten und bevorstehender Schlüsselpassagen.
Pacing-Strategie und Rennintelligenz
Klettern ist nicht nur eine Frage der körperlichen
Leistungsfähigkeit, sondern auch der richtigen Tempogestaltung. Wer am Beginn
eines langen Anstiegs überzieht, riskiert einen Leistungseinbruch in den
letzten Kilometern. Profis orientieren sich oft an Wattwerten, die sie am
Powermeter ablesen, um gleichmäßig nahe ihrer Schwellenleistung zu fahren.
Gleichzeitig erfordert jede Rennsituation Flexibilität: Angriffe von
Konkurrenten, Windverhältnisse oder Teamtaktik können erfordern, kurzzeitig
deutlich über der Schwelle zu fahren.
Auch die Position im Feld vor einem Anstieg ist
entscheidend. Wer weit hinten in den Anstieg geht, riskiert nicht nur
Zeitverlust, sondern muss auch zusätzliche Energie aufwenden, um nach vorne zu
kommen – eine Verschwendung wertvoller Reserven. Bei Bergetappen in Grand Tours
ist daher oft ein hektisches Gerangel um die vorderen Positionen zu sehen,
bevor es in den entscheidenden Pass geht.
Psychologische Komponenten
Die mentale Seite des Kletterns ist schwer messbar, aber
entscheidend. Lange, steile Anstiege bringen Fahrer an ihre Grenzen. Schmerzen,
Erschöpfung und das Wissen, dass der Berg noch Kilometer entfernt ist,
erfordern eine enorme mentale Widerstandskraft. Spitzenkletterer entwickeln
Strategien, um den Anstieg in Abschnitte zu unterteilen, sich auf Atmung und
Technik zu konzentrieren und den Schmerz als Signal für Leistungsbereitschaft
zu akzeptieren.
Visualisierungstechniken, Atemkontrolle und das bewusste
Lenken der Aufmerksamkeit auf positive Aspekte – etwa das Überholen eines
Konkurrenten – helfen, die psychische Belastung zu reduzieren. Die besten
Bergfahrer zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst unter maximaler
Anstrengung noch taktische Entscheidungen treffen können.
Anpassung an Höhenlagen
Viele große Bergetappen führen über 2.000 Meter Höhe, was
den Sauerstoffpartialdruck reduziert und die Leistungsfähigkeit einschränkt. Ab
etwa 1.800 Metern ist ein spürbarer Leistungsrückgang messbar, der bei
unakklimatisierten Fahrern deutlicher ausfällt. Profiteams bereiten sich darauf
mit Höhentrainingslagern vor, oft in Regionen wie Sierra Nevada, Andorra oder
den Dolomiten. Ziel ist eine vermehrte Bildung roter Blutkörperchen, um den
Sauerstofftransport zu verbessern.
Manche Teams kombinieren Höhenlager mit Hypoxietraining
in kontrollierten Räumen, um den Effekt gezielt zu dosieren. Entscheidend ist,
dass die Anpassung individuell unterschiedlich verläuft – nicht jeder Fahrer
reagiert gleich positiv auf große Höhen.
Trainingsmethoden für Bergfahrer im Jahresverlauf
Das Training eines Bergfahrers folgt einer klaren
Periodisierung, die auf die Höhepunkte der Saison abgestimmt ist. Die
Vorbereitungsphase im Winter legt den Grundstein mit langen Grundlageneinheiten
bei moderater Intensität, häufig auf dem Rollentrainer oder bei warmem Wetter
im Ausland. In dieser Zeit wird die aerobe Basis gestärkt, auf der später
spezifische Intensitäten aufbauen. Ab dem späten Frühjahr verschiebt sich der
Schwerpunkt auf kletterspezifische Intervalle: lange Belastungen knapp unterhalb
der Schwelle für gleichmäßige Pässe, kürzere und intensivere Wiederholungen für
steile Rampen. Diese Einheiten werden idealerweise am Berg selbst gefahren, um
Technik, Pacing und mentale Gewöhnung zu schulen.
Vor wichtigen Rennen wie einer Grand Tour folgen drei-
bis vierwöchige Vorbereitungsblöcke, in denen die Belastung gezielt gesteigert
wird, gefolgt von einer Tapering-Phase zur Regeneration. Höhenaufenthalte
werden strategisch platziert, um die Bildung roter Blutkörperchen zu fördern.
Moderne Trainingsmethoden setzen dabei zunehmend auf Indoor-Simulationen mit
Smarttrainern, die die Topografie echter Pässe nachbilden. So lassen sich
Anstiege wie der Stelvio oder Tourmalet präzise in der heimischen Trainingsumgebung
nachfahren. Powermeter und Herzfrequenzmessung sorgen dafür, dass jede Einheit
optimal gesteuert wird. Selbst im Renneinsatz wird das Training fortgeführt –
Ruhetage dienen nicht nur der Erholung, sondern auch der aktiven Anpassung mit
lockeren Ausfahrten, um den Bewegungsapparat in Schwung zu halten. Durch diese
systematische Herangehensweise erreichen Bergfahrer ihre Höchstform genau in
dem Moment, wenn es im Rennen am meisten zählt.
Die Rolle des Teams
Auch wenn der Bergfahrer im Rampenlicht steht – ohne
Teamunterstützung sind große Erfolge kaum möglich. Helfer sorgen dafür, dass
der Kapitän frisch in den entscheidenden Anstieg kommt, indem sie ihn im
Windschatten halten, Tempoarbeit leisten oder Flaschen reichen. Bei Grand Tours
wie der Tour de France ist die Arbeit der Berghelfer oft mitentscheidend für
den Gesamtsieg.
In taktisch geprägten Rennen kann ein Team auch bewusst
hohes Tempo fahren, um Konkurrenten zu isolieren. Solche „Bergzüge“
funktionieren ähnlich wie Sprintzüge – nur dass hier nicht die
Endgeschwindigkeit, sondern die Ausdauer gefragt ist.
Fazit
Der perfekte Bergfahrer ist das Resultat einer
hochspezialisierten Kombination aus Physiologie, Technik, Taktik und mentaler
Stärke. Jede einzelne Komponente – vom VO₂max-Wert über das Körpergewicht, die
Ernährung, das Material bis hin zur psychischen Belastbarkeit – trägt dazu bei,
ob ein Fahrer am Berg dominiert oder zurückfällt. In einer Ära, in der
Leistungsdaten und wissenschaftliche Trainingsmethoden offenliegen, sind die
Unterschiede oft marginal. Doch am Ende entscheiden diese kleinen Unterschiede
über den größten Ruhm, den der Radsport zu vergeben hat: als Erster über die
Passhöhe zu fahren.
Am Ende bleibt das Bergfahren eine der reinsten und
zugleich anspruchsvollsten Disziplinen des Radsports. Es ist der Punkt, an dem
sich reine Ausdauerathleten von wahren Kletterkünstlern unterscheiden – eine
Mischung aus Physiologie, Technik und mentaler Härte. Wer diese Kunstform
meistert, gewinnt nicht nur Rennen, sondern auch den Respekt der gesamten
Radsportwelt. Der Blick vom Gipfel ist dann mehr als nur die Belohnung für
harte Arbeit – er ist der Beweis, dass sich jede investierte Stunde im Sattel
gelohnt hat.